Die Intelligenz des Nicht-Wissens im Brand-Design
- baeibi switzerland
- 9. Juli
- 3 Min. Lesezeit
In einer Welt, die von Algorithmen und Daten dominiert wird, liegt die wahre Markenstärke oft in der bewusst zugelassenen Ungewissheit. Ich habe als Designerin gelernt, dass nicht alle Antworten im Handbuch stehen – erst die Leerstelle schenkt unserem Denken Raum für Kreativität. Diese Haltung erinnert an John Keats’ Idee der Negative Capability: dem „fähig zu sein, in Unsicherheiten, Rätseln, Zweifeln zu verharren, ohne nach Fakten und Vernunft zu greifen“. Als Creative Director empfinde ich diese paradoxe Kraft als bewusste Gegenbewegung zu algorithmischen Lösungen.
Negative Capability als Gestaltungsprinzip
In der Praxis bedeutet Nicht-Wissen, dem Drang zur endgültigen Lösung zu widerstehen. Es ist wie ein unvollständiges Gemälde zu betrachten – gerade die angedeuteten Konturen faszinieren uns am meisten. Wir vertrauen darauf, dass unser Gehirn sein eigenes Bild vervollständigt. Markenidentität funktioniert ähnlich: Sie ist ein synthetisches Ganzes aus Zeichen und Bildern, in das das Publikum eigene Vorstellungen füllen kann. Otl Aicher hat es prägnant formuliert: „Alle Farben, die wir sehen, sind da. Aber wir sehen nur diejenigen, die uns im Bewusstsein vertraut sind und die wir benennen können“. Das bedeutet: Wir setzen bewusst Schwerpunkte, während andere Elemente im Schatten bleiben.

Gehirn unter KI-Begleitung
Wenn wir der Maschine komplett das Ruder überlassen, droht eine andere Art von Leerstelle – die Entkopplung unseres eigenen Denkens. Forscher vom MIT Media Lab und Wellesley College haben per EEG nachgewiesen: Personen, die sich vollständig auf KI-Unterstützung wie ChatGPT verließen, zeigten deutlich geringere neuronale Aktivität als diejenigen ohne digitale Helfer. Ihre Gehirnkonnektivität nahm „systematisch ab“, je mehr externe Unterstützung sie nutzten. Die KI-unterstützten Essays wurden von Gutachtern zwar als fehlerfrei gelobt, aber als steril und einfallslos kritisiert. Erst nach eigener Vorarbeit und Ideenfindung führte der Einsatz von KI zu einer erhöhten Gehirnaktivität. Die Lehre daraus ist klar: KI kann inspirieren, aber nur wenn der Mensch zuerst denkt und fühlt.
Ambiguität und Irritation als Markenstrategie

Gute Markenkommunikation bricht Erwartungen und weckt Neugier. Unser Gehirn ignoriert Gewohntes – Überraschendes hält es wach und im Gedächtnis. Deshalb setzen clevere Kampagnen gezielt auf Pattern Interrupts: unerwartete Reize, die das übliche Scroll- oder Leseverhalten unterbrechen. IKEA warf beispielsweise mit dem Slogan „Wanted: One Night Stand“ (gemeint: ein Nachttisch) einen humorvollen Wortspiel-Ausreißer ins Spiel. Dieser Coup provoziert ein Schmunzeln und bleibt im Gedächtnis. Dagegen stellte Doves Real Beauty-Kampagne gängige Schönheitsideale bewusst auf den Kopf. Diese Beispiele erzeugen kognitive Dissonanz, die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Creative Direction: Der Taktgeber im Nebel
Als Creative Director sehe ich meine Aufgabe darin, diese Spannung bewusst zu steuern – als lebendigen Kompass, nicht als Content-Automat. Ich behalte das große Ganze im Blick, stelle Fragen und schenke dem Team Vertrauen, anstatt jeden Schritt vorzuprogrammieren. Tim Brunelle bringt es auf den Punkt: „KI-generative Technik… ist nicht neugierig, liest den Raum nicht, verfolgt nicht kulturelle Strömungen. Kreativdirektoren hingegen tun all dies und mehr.“. Wir Menschen liefern Kontext, Empathie und Intuition. Die KI wird so zum Gehilfen unserer Ideen, nicht zum Diktator.
Zum Schluss bleibt: Die Intelligenz des Nicht-Wissens ist das Versprechen eines lebendigen, echten Brandings. Markenführung lebt von Balance – von Intuition, Überraschung und der Freiheit, Leerräume zuzulassen. Design ist dabei keine rein technische Disziplin, sondern eine Denkhaltung: Es formt Fragen statt fertige Antworten. KI kann uns begleiten, aber der Mensch muss vorausgehen. Nur so bleibt Branding authentisch und zukunftsfähig.
Quellen: Gedanken von John Keats über Negative Capability poetryfoundation.org und Otl Aichers Reflexion über Wahrnehmung itsnicethat.com; aktuelle EEG-Studie zu KI-gestütztem Schreiben business-standard.comedweek.orgedweek.org; Beispiele für pattern interrupts in Kampagnen presseportal.depresseportal.depresseportal.de; Rolle von Creative Director vs. KI. tbrunelle.medium.com.



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